Samstag, 21. März 2009

JABAR HAN - Gedanken von Nasim in Patras

Jabar Han

Vor vielen Jahren. Als ich dreizehn, vierzehn Jahre alt war. Als wir noch nicht Flüchtlinge waren. Ich liebte wie alle Kinder in Afghanistan Han Nou - Zinatgi Nou, was soviel heißt wie neues Haus - neues Leben. Eine tägliche Radiosendung, die jeden Morgen vom BBC in Farsi gesendet wurde, außer Donnerstag und Freitag, die da Feiertage sind. Das Han Nou - Zinatgi Nou war ein Spiegel des Alltags, von einem Dorf mit allen seinen Problemen, das ganz Afghanistan symbolisierte. Mit all seinen Problemen, als der Krieg noch nicht beendet war mit Russland, während der Bürgerkrieg sich entfaltete. Ein Dorf mit allen Gesichtern, gute und böse, starke und schwache, arme und reiche. Eine Person war sehr bekannt, das war Jabar Han. Jabar war der Böse, er hatte eine erschreckende Stimme und trug immer eine Kalaschnikow bei sich. Seine Logik fing bei Kalaschnikow an und endete bei Kalaschnikow. Alle in seinem Dorf hatten Angst von ihm und haben immer gebetet, ihm nicht zu begegnen, am allermeisten die Kinder. Daher kommt der Ausdruck: du bist Jabar, was soviel heißt wie, du bist böse. . . .

Als ich mit meiner Familie Afghanistan verlassen habe und das Abenteuer der Flucht angefangen hat, blieben das Dorf und damit auch Jabar und alles andere Gute und Böse zurück und wurden zu Vergangenheit. Jetzt hatte ich andere Probleme und keine Zeit, nach hinten zu schauen. Jetzt hing mein Leben an jeder Minute, die kommt. Ich muss kämpfen. Kämpfen, damit ich schaffe, mitzukommen auf dem langen Weg durch die Berge, während der langen Märsche über die Grenzen. Ich muss kämpfen mit den großen Wellen, damit mein kleines Boot nicht kentert. Ich muss kämpfen, Arbeit zu finden, auch wenn es nur für fünf oder zehn Euro ist, um essen zu können und nicht auf der Straße zu sein. Ich muss meine Papiere erlangen, damit sie mich nicht wieder in den Knast stecken. Ich muss die Krankenversicherungsbeiträge zahlen und die Gebühren, damit sie mir nicht die Aufenthaltserlaubnis wegnehmen. Ich muss, ich muss, ein Leben voller Muss. . . . So habe ich, ob ich es wollte oder nicht, die Vergangenheit vergessen.

Aber du weißt nie, manchmal kommt die Vergangenheit von alleine und steht vor dir:
Ich saß in einer Ecke des Lagers in Patras. Es war spätnachmittags und ich war unglaublich erschöpft. Wir hatten schon wieder einen anstrengenden Tag hinter uns, an dem wir verletzte und kranke Kinder ins Krankenhaus begleitet haben. Ein paar Meter weiter unterhielten sich eine Gruppe von fünf, sechs sehr jungen Kinder auf eine kindliche Art. Ich beobachtete ein anderes Kind, das sich etwas weiter weg um die Hühner kümmerte, sie fütterte. Die Hühner gehören einem griechischen Opa, der noch andere Tiere besitzt. Kleine Lämmer, Ziegen und Schweine und er wohnt hinter dem Lager. Dann hörte ich ein Kind einen Name sagen. Ich hörte, wie es sagte: Jabar Han. Am Anfang habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass Kinder, die hier neu angekommen sind, über Jabar reden.

Ein Irrtum. Die Kinder redeten nicht wie ich dachte über den afghanischen Jabar. Sie sprachen über einen anderen Jabar. Ich habe das begriffen, als das eine Kind ein anderes am Rücken anfasste, das offensichtlich Schmerzen hatte und ihm laut sagte: Ich hatte dir gesagt, nicht zum Hafen zu gehen, weil Jabar da ist und er dich schlagen wird. Du wolltest nicht auf mich hören, deswegen hast du das jetzt davon. Ich stand auf, ging zu ihnen hin und fragte interessiert. Sie fingen an, alle gleichzeitig zu reden. Ich sagte: Einer nach dem anderen, damit ich verstehe. Und so fing jeder an, seine Geschichte über Jabar Han zu erzählen. Der Erste hat Jabar beschrieben wie er aussieht. Er ist sehr stark, hat einen trainierten Körper, ist rasiert und trägt immer eine schwarze Sonnenbrille und Handschuhe. Und meistens hat er die rechte Hand an seiner Waffe, die an sein Gürtel hängt, und in der anderen Hand hat er ein. . . Die Spitzen seine Schuhe sind aus Metall und er ist sehr schnell, wenn er dich festnehmen und dich prügeln will. Der Andere sagte: Bevor ich zum Hafen gehe, schau ich heimlich, ob Jabar da ist, Wenn er da ist, gehe ich ganz ruhig zurück zum Lager, weil er mich einmal so schlimm verprügelt hat, das reicht für mein ganzes Leben. Der Nächste sagte: Jabar hat mich zwei Mal verprügelt. Das zweite Mal war ich zehn Tage im Krankenhaus. Und jetzt habe ich große Angst und will nie wieder zum Hafen. Ich trau mich nicht mal mehr in die Nähe vom Hafen. Ich bin jetzt sehr lange im Lager und ich weiß nicht, wie lange ich noch hier bleiben werde. Und guck mal den, den er grade verletzt hat, es geht ihm beschissen - wer bringt ihn jetzt ins Krankenhaus? Der Letzte versuchte, den Schlauen zu geben, sagte: Ich bin der Einzige hier im Lager, der nicht von Jabar verletzt worden ist. Ich bin schneller als er und er konnte mich nie erwischen. Aber ich hasse ihn, weil er sauer wird, dass er mich nicht erwischen kann und mich ganz schrecklich beschimpft.

Als wir etwas später im Krankenhausflur stundenlang warteten, bis die Reihe an uns kam, damit der Arzt das verletze Kind untersucht, das von den Tritten von Jabar verletzt war, dachte ich an tausend Sachen. Ich hatte einen Namen gehört, der mich dazu zwang, die Augen zuzumachen nach so vielen Jahre und Abenteuern und mich auf eine kurze Reise in meine Kindheit begeben. Ich reiste in die Vergangenheit und erinnerte mich an all die Jabars von Afghanistan. Die Russen, die Mujahedin, die Taliban, die Amis und alle Anderen, die das Leben, das Land, die Häuser und die Menschen zerstört haben, und die Schuld sind, dass Eltern und Kinder getrennt wurden. Ich öffnete die Augen und schaute in Richtung des verletzten Jungen, der erschöpft in einem Stuhl neben mir saß und eingeschlafen war.

Ich fragte mich, was für einen Kindertraum dieses Kind gerade sieht oder eher was für einen Alptraum. Aber schon bald gab meine Fantasie mir Antworten. Dass er den Kindertraum der Sicherheit träumt, dass er sich irgendwo sieht, wo er in Sicherheit ist. Dass er die Augen aufmacht und keinen Jabar sieht, der ihn verletzen will. Irgendwo, wo er ein Häuschen hat und kein Lager. Wo er zur Schule gehen kann, statt in den Hafen unter die LKWs. Irgendwo, wo er spielen kann, statt den ganzen Tag Hütten aus Pappe und Plastik zu bauen. Und wo er respektiert wird wie ein Mensch, wie ein Kind, statt beleidigt zu werden.

Aber wenn er einen Alptraum sieht, dann sieht er Jabar, der ihn festgenommen hat und ihn brutal verprügelt, so wie neulich. Und das niemand da ist, der im helfen kann. Er schreit um Hilfe und Jabar lacht und prügelt. Und um sie herum nur Zäune und viele Menschen. Fernsehzuschauer, die sehen, aber machen, als ob sie nichts hören und sehen würden. Als ob sie im Kino wären und Rambo schauen würden. Einen Jabar und viele Jabars, die diesmal nicht Russen sind, nicht Mujahedin, nicht Taliban, nicht Amis in Afghanistan, sondern Hafenpolizisten in Patras im Herzen von Europa, die im Namen der Sicherheit die Flüchtlinge...

Nasim Mohamadi, 16. 02. 2009